(Auszug) Kleine Sünden werden sofort bestraft, aber die Belohnung, wenn man sich bessern will, bleibt aus, haderte Ulla, als sie sich mühsam bis in den zweiten Stock ihres Hauses hochgeschnauft hatte und feststellen musste, dass es hier sehr schlecht roch. Um nicht zu sagen stank. Sie war lange nicht hier gewesen, denn sonst schoss sie immer mit dem Fahrstuhl an allen Stockwerken vorbei nach oben in den vierten, wo sie wohnte.
Eben dort oben war jedoch am letzten Wochenende bei dem Versuch, ihre Sommerhose zu schließen, kanonenschussgleich deren Knopf abgesprungen und in hohem Bogen davongeflogen. Beeindruckt hatte Ulla beschlossen, etwas für die Instandsetzung ihrer Taille zu tun, und war auf die für eine Obergeschossbewohnerin naheliegende Idee verfallen, künftig alle Treppen zu Fuß zu steigen, hinauf wie herab, und jedes Hilfsmittel zu verschmähen. Vielleicht würde dieser Umstieg aus ihrer maximal ressourceneffizienten Fortbewegungsweise in eine tätigere Lebensart schon reichen, um die gewünschten Wirkungen zu erzielen? Sie schaute nach: 0,1 Kalorien verbrannte man aufwärts pro Stufe, sagte das Internet. Abwärts 0,05. Das klang doch ganz gut. Motiviert stiefelte Ulla los und ließ sich auch von dem Muskelkater, der sich gleich nach dem ersten Tag einstellte, nicht entmutigen.
Der schlechte Geruch hier, das war jedoch eine Prüfung. …
(2022)

Wie es weitergeht, steht in der Anthologie 2 der Offenen Lesebühne Sonochnie: „Unten ist noch Glut“.