Wenn dieser Tage das Telefon klingelt, fühle ich mich verpflichtet abzuheben. Ich kann ja schlecht sagen, ich sei unterwegs gewesen. Wo sollte ich sein? Vor dem Kino, vergilbende Plakate anschauen und ein bisschen weinen? In der Kneipe? Oder gar auf einer Party?
Ich geh also ran.
„Hi, wollt mich mal wieder melden.‟
„Schön, wie geht’s denn so.“
„Geht, war einkaufen.“
„Und?“
„Es gab Hefe!“
„Nein!“
„Doch!“
„Echt?“
„Jo. Und du?“
„Ich hab schon wieder ein Kilo zugenommen.“
„Ich auch. Hast du schon ne Maske?‟
„Hab welche bestellt.‟
„Ich weiß, wie man ganz einfach eine selbst machen kann, ohne Nähen oder so!‟
„Ach ja?‟
„Aus einer Unterhose, die kann man über den Kopf ziehen. Und dann an den Ohren einhängen. Soll ich das mal zeigen? Wollen wir eine Videokonferenz…‟
„Ach nee, lass mal.‟
„…‟
Zum Glück klingelt das Telefon nicht oft. Ich rufe auch kaum noch jemanden an. Irgendwie gibt es nicht genug zu erzählen. Alle sind zuhause, alle machen – fast – das gleiche. Nichts passiert. So ähnlich stelle ich mir das Leben auf dem Dorf vor. Nur dass es dort keine mehrgeschossigen Häuser gibt, und ich deshalb gestern nicht so einen Schreck bekommen hätte, als Alexis Sorbas aus meinem Fenster fiel. Also, das Buch. Ich hatte es zur Fensterklemme degradiert und hantierte irgendwie ungeschickt. Zack, war es weg. Es dauerte irritierend lange, bis es mit einem Knall unten aufschlug. Das Geräusch war im ersten Moment eine Erleichterung: Keine Toten! Im zweiten ein Zweifel: Wie hätte es denn geklungen, wenn ein Mensch, von dem Buch getroffen, in die Knie gegangen wäre? Der dritte Moment: Stand jetzt unten einer, der wartete, aus welchem Fenster ich schaute, um mich dann verklagen zu können? Jetzt hätte sich vielleicht mal ein Anruf gelohnt: „Du, ich hocke gerade hinter meinem Fenster, stell dir vor, ich habe eben ein Buch rausgeworfen…‟ Alles eine Frage der Inszenierung. Erst eine halbe Stunde später wagte ich, mich rauszubeugen. Mein Buch liegt jetzt im Dreck zwischen zwei Autos.
Ab und zu begegne ich meinem Mitbewohner. Das kommt nicht oft vor, denn wir teilen nur jene Stunden des Tages, in denen die Sonne von Westen aus in unsere Wohnung scheint. Seine zweite Mahlzeit ist meine letzte, danach verliere ich ihn wieder aus den Augen. Während ich Bücher aus dem Fenster werfe und ansonsten auf dem Sofa sitze, hängt mein Mitbewohner vor seinem Bildschirm und einem glatten, rechteckigen Gerät, dessen Ausschalter ich bis heute nicht finden kann, und in dem sich sein soziales Umfeld befindet. Soweit es sich mir erschlossen hat, kicken sie da drin zusammen oder ziehen marodierend durch irgendwelche Lande und töten alles, was nicht bei drei auf dem Baum ist. Sie haben viel Spaß. Neulich trafen sie sich mal live in einem abgelegenen Schrebergarten und stellten dort fest, dass sie die Haare scheiße hatten. Kurzerhand schoren sie sich gegenseitig alle Köpfe und sehen jetzt grauenhaft aus.
Ich spiele derweil mit dem Gedanken, mich per Hörbuch auf Marcel Prousts siebenbändige Suche nach dessen verlorener Zeit zu machen. Sieben Bände! Ich muss verrückt sein. Band eins hat 20 Stunden und er ist nicht der längste. Soll ich? Mal aus der Zeit fallen – ein Wagnis.
Als ich mich dem Zeitpunkt nähere, an dem ich länger darüber nachdenke, ob das Hörbuch zu lang wäre, als es dauern würde, es anzuhören, kommt mein Mitbewohner rein und fragt: „Haben wir eigentlich meine Französisch-Schulbücher noch irgendwo?‟
Französisch? Ist das ein Zufall? Und seit wann spricht er das Wort Französisch aus, ohne sich zu übergeben? Er kommt meiner erwartbaren Entgegnung zuvor: „Ja, ich weiß, ich wollte die wegwerfen‟, sagt er.
„Genau‟, stammle ich.
„Ich dachte, vielleicht hast du die doch aufgehoben.‟
„Nein, hab ich nicht. Wie kommst du darauf?‟
„Die eine Clausur hast du ja auch noch.‟
Die eine Clausur, stimmt. Sie ist ihm vor ein paar Tagen in die Hände gefallen. Da hat er Fotos aus der analogen Hälfte seiner Kindheit gesucht und erfahren müssen, dass er das meistfotografierteste Kind der Welt war. Er wollte gerade die Kiste wieder zuklappen, da fiel ihm diese Clausur in die Hände, die irgendwie zwischen die Bilder geraten war. Französisch, neunte Klasse. Sein Lehrer hatte Sachen wie „du warst faul‟ und „nochmal Glück gehabt‟ darunter geschrieben. Mein Mitbewohner sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an: „Was willst du denn damit?‟
„Ein Dokument der Zeitgeschichte‟, hatte ich gestottert, aber mein Image war ruiniert.
Jetzt also die Französischbücher.
„Wozu brauchst du die denn?‟, frage ich. Überflüssigerweise, aus dem Fenster werfen wollen wird er sie vermutlich nicht. Und Klopapier haben wir auch noch genug. Also wozu wohl?
Zum Glück hat er Geduld mit der älteren Generation und ihrer Behäbigkeit und erklärt: „Erik und ich wollen im nächsten Semester Französisch lernen.‟
„Nein!‟
„An der Uni gibt‛s Sprachkurse, kostet nix, da melden wir uns an‟, sagt er. „Dann bestell ich mir die Bücher jetzt mal nach.‟
Tief beeindruckt bleibe ich zurück. So viel Geist in unserer Hütte! Ich schließe die Augen, um ihn besser wehen lassen zu können. Vielleicht wird die Menschheit doch nicht untergehen? Wenn nichts passiert, fängt der Mensch an, selbst Großes zu erschaffen. Oder Französisch zu lernen. Ich muss vielleicht meine Ansichten über die ländliche Lebenswelt noch einmal überdenken. Wobei, wenn ich an die weniger erfolgreichen Verständigungsversuche bei Umlandausflügen denke – Fremdsprachen waren da eigentlich nicht im Spiel…
Aber ist ja auch egal. Das Dorf ist, wo wir sind! Oder so ähnlich. Ich logge mich in meinen Hörbuchladenkundenaccount ein. Im Warenkorb liegt „In Swanns Welt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Teil 1‟. Ich klicke auf „kaufen‟.
(Juni 2020)